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Der Stadtplan

Warum ich den Stadtplan kaufte? Ganz einfach: weil man ihn mir anbot. Auf dem Graffelmarkt, einen klassischen Faltplan aus den 1980ern, die einzige Werbung darauf von der Fürther Stadtsparkasse. Natürlich nicht mehr absolut tages­aktuell, deutlich sichtbar häufig benutzt, aber schön anzusehen, schön in der Hand zu halten, schön auf einem Tisch auszubreiten, um mit dem Finger Straßen nachzuziehen. Ich bin kein Feind moderner Technik, ich nutze auf dem SmartPhone jeden Quatsch, den der AppStore so hergibt: Schritt­zähler, Kompass, Frequenz­generator und Geigerzähler, aber so ein alter Stadtplan auf echtem Papier – da geht für mich nichts darüber. Und als ich dann zu Hause saß und mich über den Plan beugte, den ich auf dem Tisch ausgebreitet hatte, um mit dem Finger die eine oder andere Straße nachzuziehen, entdeckte ich die Markierungen. Ich zählte 38 mit Bleistift gezeichnete feine Routen, die auf leicht unterschiedlichen Wegen durch die Stadt liefen. Alle jedoch begannen am Rathaus und endeten hinter der Fürther Freiheit an der Rudolf-Breitscheid-Straße. Und auf jeder der Linien hatte der unbekannte Vorbesitzer zwischen sieben und neun winzige Punkte gemalt.
Der Stadtplan Fürth
Ich grübelte wochenlang. Das Rätsel, was den unbekannten Vorbesitzer der Karte wohl bewogen hatte, Dutzende unterschiedliche Varianten eines Weges sorgfältigst in einem Stadtplan einzuzeichnen, ließ mich nicht los. Verwandten und Bekannten ging ich damit derartig auf die Nerven, dass sie abwinkten und sogar die Flucht ergriffen, wenn sie mich nur auf hundert Meter Abstand erblickten. Bis wieder der Namenstag des Erzengels an der Reihe war und auf der Michaelis-Kirchweih nach fünf oder sechs Seidla – auf keinen Fall waren es mehr! – bei mir der Groschen fiel: jede der Linien bedeutete einen Besuch hier auf der Kärwa. Jeder der Besuche hatte mit einem Gwedelten beim Karussell gegenüber vom Schwarzen Kreuz begonnen und irgendwo bei den Ochsenbratereien um die Rudolf-Breitscheid-Straße geendet. Jeder Punkt stand für ein getrunkenes Bier.
Bier auf der Fürther Kirchweih
Die Erklärung passte perfekt. Der Nachweis dafür gelang mir in den folgenden Tagen, indem ich ein halbes Dutzend der Routen abwanderte. Auf jeder gab es mindestens eine neue Station, wofür eine frühere weggefallen war. Das Ganze zeugte von großer Ernsthaftigkeit bei der Auswahl von Getränken und Speisen, ja von wahrer Hingabe an die Sache. Dies war das Werk eines großen Liebhabers der Kirchweih, eines echten Aficionados, wie man das heutzutage so nennt. Ganz von allein ergab nun auch Sinn, dass die Routen gegen Ende hin dazu neigten, im Zick-Zack zu verlaufen, und die Punkte am Schluss eher wie ungelenke Bobbel aussahen. Blieb nur noch eine Frage offen: Weshalb hatte sich der unbekannte Stammgast der Kirchweih von seinem Faltplan getrennt? Ich weiß es nicht, aber ich will das Beste hoffen: dass der oder die Unbekannte bis heute fröhlich über die Kirchweih zieht und jedes einzelne Seidla für die Nachwelt aufzeichnet – bloß halt zeitgemäß mit dem SmartPhone. Vielleicht liest hier ja auch jemand mit, der die Antwort kennt …?

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